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Weihnachtsmärchen

Weihnachtsmärchen für Erwachsene

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Weihnachtsmärchen für Erwachsene

„Schlag dir das aus dem Kopf“, hatten sie gesagt, Peggy und Sue und die ganze Runde.
Obwohl sie wussten, dass er nichts auf gut gemeinte Ratschläge zu geben pflegte.
Sie fuhren selbst schon lang nicht mehr über die Festtage zu ihren Familien und sie kannten seine zu genüge. Zumindest hätte jede von ihnen gern das Vorrecht für sich gepachtet, aus seinen sarkastischen Erzählungen am schlauesten geworden zu sein, am besten zu wissen, was gut für ihn war und am dringlichsten dafür zu sorgen, dass er das Ende des Jahres mit der Besten feiern würde. „Schlag dir das aus dem Kopf“, hatten sie gesagt und – ganz egal, welch niedere Beweggründe sie dazu getrieben hatten – hätte er mal besser drauf gehört.

Zwölfter Stock, an Weihnachten, verdammt. Er hatte es nicht nötig, sich umzusehen, wen er im zugigen Hausflur abdrängte, um gerade so zwischen den schließenden Türen des Aufzugs hindurch ins Innere zu hechten. Die Anfahrt war unkomfortabel gewesen, die Züge auf vereisten Gleisen verspätet in die Bahnhöfe geschlittert, der stockende Feierabendverkehr hatte vehement an seinen Nerven gezehrt. Und der Aufzug? Blieb irgendwo kurz vorm Zwölften stecken.

Zappenduster wurde es. Er vermutete, der Strom war ausgefallen, nicht wirklich verwunderlich, wo alle Welt meinte, einander mit kitschigen Lichtskulpturen in ungeputzten Hochhausfenstern übertrumpfen zu müssen. Irgendwann brach jedes noch so schöne Konstrukt in sich zusammen. Das Stromnetz war davor nicht gefeit.
Und die eigenen Nerven, mein Bester? Nun, die mussten.

Ein Rumpeln im Schacht, stehende Luft, sein eigener Herzschlag und die Trockenheit in seinem Hals. An all das dachte er nicht mehr, als er dran erinnert wurde, dass er nicht allein mit seinem Ärger hier drin festsaß.

„Na? Was hats Dir jetzt gebracht, so rücksichtslos zu sein?“
Die alte Schachtel, die er im Hausflur weggerempelt hatte, wenn ihn nicht alles täuschte.
Er suchte fahrig nach seinem Handy und fand es nicht. Seufzte.
„Was bringt es umgekehrt Ihnen“, entgegnete er barsch, „jetzt schadenfroh zu sein? Wo bleiben Genugtuung und Gerechtigkeit, wenn Sie genauso festhocken?“
Er zerrte unwillig an seinem Kragen. Warum ging es nicht weiter, verdammt? Es war eine bescheuerte Idee gewesen, herzukommen. Nur, weil er mit keiner der oberflächlichen Tanten hatte feiern wollen, auf einmal, weil er sich mal wieder hatte blicken lassen wollen bei seinen Leuten, dass sie endlich Ruhe gaben. Oder?
„Glauben Sie, dass Gerechtigkeit so leicht funktioniert?“, sagte sie und wenn es nicht so finster gewesen wäre, hätte er schwören können, sie legte die furchige Stirn in Falten.
„Es hat schon alles seinen Sinn, Du wirst schon sehen.“
Bitte, sollte sie ihren Frieden machen. Er massierte seine Schläfen.
„Zu wem wolltest Du?“, fragte sie. Man konnte wahrhaft schändlich indiskret sein, wenn man einander nicht in die Augen sehen musste, dachte er und zog eine Grimasse.
„Zu den Wagners?“
Man wurde wohl ebenfalls gut im Raten, wenn man so viel Zeit dazu hatte. Skeptisch ließ er sich nieder und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Beeindruckend“, sagte er ungerührt. „Man möchte meinen, Sie sind eine Hexe.“
„Lieber Junge, wir haben Weihnachten. Da gibts, wenn überhaupt, nur gute Geister auf den Fluren.“
Sie klang so entrüstet, wie er mit einem Mal belustigt war.
„Was Sie nicht sagen.“
„Ja, ich meine, die Wagners zum Beispiel warten seit Jahren auf ihren Jungen. Was könnte den hergelockt haben, wenn nicht ein kleines Wunder?“
„Ich nenne diese Gegebenheiten nicht Wunder. Vielleicht Trotz. Oder Langeweile. Oder Dummheit. Aber Wunder? Die gehören heute doch höchstens den Kindern.“
„Ach“, schnarrte sie, „alles eine Frage des Blickwinkels. Irgendwer da oben wartet vielleicht nur auf Dich. Der sieht vielleicht in dir ein Wunder, auch wenn es Jahre und Stunden zu spät kommt und immer noch eine zittrige halbe Stunde braucht, sein feiges Herz an den rechten Fleck zu rücken.“

Dann ging das Licht an und er kniff die geblendeten Augen zusammen, als der Aufzug weiterfuhr, drei Meter vielleicht, bis die Türen aufglitten. Er blinzelte benommen vor sich hin und suchte nach dem warmen Strahlen der Alten, einem ermutigenden Blick und einer leisen Aufforderung. Aber alles, was er sah, war im Spiegel sein eigenes, nachdenkliches Gesicht. Er rückte seine Kleider an Ort und Stelle und stieg aus, Jahre und Stunden – und eine halbe – zu spät.

„John“, sagte sie atemlos, als die Tür aufging. Die Klinke rutschte aus ihrer Hand und das gezwungene Lächeln aus seinem Gesicht. Die Jahre hatten sie schöner gemacht und dennoch fremder.

„Wir haben nicht mit dir gerechnet“, erklärte sein Vater. Sein knittriges, graues Hemd saß schlampig. Und dennoch war es anrührend. „Da haben wir Nora gefragt, ob sie die Feiertage bleiben kann.“ Er konnte nur nicken, nicken und sie nicht ansehn, keinen von ihnen, er ließ den Blick durch den Raum schweifen und wünschte sich eine verrückte Alte herbei, die ihm Mut zusprechen konnte und doch nur in seinen Tagträumen existierte.
Er dachte an den „rechten Fleck“. Seine Beine waren da, das wusste er, seine Gedanken, sein Herz.

Es fehlten nur die Worte, die Erinnerung, die nie am rechten Fleck gewesen war, immer zur falschen Zeit, immer mit falschem Wert. Ein Wunder fehlte.
Seltsam, dass es erst eins werden würde, wenn er es nicht verbockte.
Er linste sie alle an, reihum. „Entschuldigt“, sagte er. „Dass ich so spät komme.“
Viel, viel zu spät, dachte er, um so zu tun, als sei alles bestens, als stünde nicht so viel zwischen jedem von uns. Viel, viel zu spät, als dass alles gut werden könnte, was vor vielen Jahren vergebens darauf gewartet hatte, schön sein zu dürfen.

Aber etwas blieb immer übrig. Etwas blieb immer zurück, auch wenn alles drum herum kollabiert war. Er sah zu den Lichtwesen, die seine Eltern mit seiner Jugendliebe im Fenster zusammengebastelt hatten. Wie instabil sie waren. Er sah es Noras Blick, als er ihn festzuhalten wagte.

„Eine schlechte Idee“, hatten sie es genannt, Peggy und Sue und alle anderen. Er glaubte nicht daran. Nur, weil sie lächelte, jetzt grade, irreparabel beschädigt, aber froh. Es war ein Funke, der auf alle anderen überzuspringen verstand.
Und ganz kurz wurde alles ein winziges Bisschen einfacher. Er war endlich da.

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Seit dem Jahr 2010 veröffentliche ich auf weihnachtswuensche.com Sprüche, Gedichte, Geschichten, Lieder und vieles mehr rund um das Weihnachtsfest. Das Fest der Liebe bedeutet mir sehr viel, deshalb macht mir das Mitwirken an dieser Webseite sehr viel Spaß.

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