Adventsgeschichte für Erwachsene

Thomas verbrachte die Mittagspause im Büro. Draußen war es kalt und die ersten Schneeflocken purzelten aus einem grauen Himmel. Auf dem Adventskranz, der den Besprechungstisch schmückte, waren zwei Kerzen angebrannt. „Nur noch wenige Tage bis Weihnachten und wieder sitze ich alleine unter dem Baum“, sagte Thomas verstimmt in den Hörer. Sein Freund Udo am anderen Ende der Leitung versuchte mit allen Mitteln Thomas aufheitern und zum Handeln zu bewegen: „Versuche es doch einfach über das Internet und melde dich bei einer Singlebörse an. Das kann doch nicht schaden!“ Schon mehrmals hatte Udo probiert, seinen langjährigen und besten Freund von dieser modernen Art der Partnersuche zu überzeugen. Bis jetzt hatte Thomas das immer von sich gewiesen. Da sei er altmodisch und ihm reiche schon die virtuelle Welt, mit der er tagtäglich beruflich zu tun hätte.

Udo wollte ihm so gerne helfen. Er selbst hatte eine Frau, die er liebte und seine kleine Tochter Mara war gerade fünf Jahre alt geworden. Die Ehe seines Freundes dagegen scheiterte vor vier Jahren und Thomas hatte lange Zeit kein Interesse an Frauen gezeigt. Seit ein paar Monaten war das anders. Thomas ging wieder vermehrt aus und der eine oder andere Flirt war auch schon drin. Für eine neue Liebe hatte es allerdings nicht gereicht. „Jetzt fängst du wieder mit der Online-Suche an“, schimpfte Thomas und blickte dabei zu Tür. Pauline, die Werbemanagerin, kam herein. Sie war sehr hübsch und Thomas war ein paar Mal mit ihr aus, aber kein Funken sprang über, zumindest nicht auf seiner Seite. „Gut, ich werde es mir überlegen. Ich muss jetzt weitermachen, Pauline und ich müssen noch ein Konzept ausarbeiten. Wir telefonieren später.“ Thomas war froh, dass das Gespräch jetzt zu Ende war. Das Drängen seines Freundes war nett gemeint, aber er zweifelte. War das wirklich seine Welt, eine Partnerbörse?

Als Thomas am späten Abend nach Hause in seine leere Wohnung kam, brummte ihm der Kopf. Er versuchte fernzusehen, klappte aber nach einiger Zeit doch seinen Laptop auf und machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Plattform für die Partnersuche via Netz. Er hatte überhaupt keine Lust ein vollständiges Profil anzulegen und so beschränkte er sich auf wenige, nicht gerade motivierende Worte: „Weihnachten steht vor der Tür. Dringend Engel gesucht!“ Danach loggte er sich aus, ohne sein Bild darin zu posten. Viel Hoffnung hatte er ohnehin nicht, aber er konnte auch nicht ständig jammern und nichts dagegen unternehmen.

Zwei Tage vergingen und Thomas hatte seine Online-Anzeige schon fast vergessen. Jetzt doch gespannt öffnete er sein Postfach und da fand sich tatsächlich eine einsame Antwort. „Ich habe keine Flügel und kein goldenes Haar. Wenn du keine genaue Vorstellung davon hast, wie Engel aussehen, dann sollten wir uns kennenlernen. Ich bin am Dienstag Abend um 18 Uhr im Café am See. Vielleicht bis dahin. Übrigens – Engel erkennt man niemals gleich auf den ersten Blick!“ Thomas sah auf die Uhr. Heute war Dienstag und bis zum Date war nur noch wenig Zeit. Er fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare, setzt sich ins Auto und donnerte los. Von unterwegs aus gab er Udo Bescheid, der ihm erleichtert viel Glück wünschte. Am Zielort angelangt, parkte er das Auto und betrat das Lokal. Suchend sah er sich um. Wie könnte ein Engel aussehen, sah man es an den Augen? Thomas hatte keinerlei Vorstellung. Natürlich hatte er Geschmack und nur wenige Frauen fielen in sein Beuteschema. Ein Engel jedenfalls war noch nicht dabei, da war sich Thomas ganz sicher.

Plötzlich spürte er eine Hand leicht auf seinem Rücken. „Thomas, was machst du hier?“ Er drehte sich um, hinter ihm stand Pauline mit leicht geröteten Wangen. Die sonst so taffe Kollegin war sichtlich aufgeregt und blickte wie er suchend im Raum umher. „Oh ich“, antwortete Thomas unsicher, „ich wollte nur schnell einen Cappuccino trinken und da kam ich hier vorbei und ja jetzt bin ich hier. Und du?“ Pauline zögerte etwas und dann war es raus: „Ich habe ein Date, ein sogenanntes Blind Date. Ich weiß nicht genau auf wen ich warte, es ist eine Online-Bekanntschaft. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt kommt.“

Thomas sah Pauline erstaunt an und zum ersten Mal hatte er das Gefühl, sie wirklich zu sehen. Er sah ihre grünen Augen, ihren wohlgeformten Mund und ihre kurzen, braunen Haare. Nein, wie ein Engel sah sie wirklich nicht aus. In seinen Kinderträumen hatten Engel stets lange, blonde Haare. Er mochte den Klang ihrer Stimme und wenn sie im Büro lachte, dann lachten alle mit. Pauline stutzte als er sie so musterte. „Du? Du suchst einen Engel?“ Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Sie bekam weiche Knie und Herzklopfen so wie immer, wenn Thomas in ihrer Nähe war. Sie hatte so sehr gehofft, dass er einmal mehr für sie empfinden würde, aber nachdem das nicht der Fall war, entschied sie sich für eine Partnersuche mittels Internet, um ihn darüber vielleicht zu vergessen. Und jetzt, jetzt stand er vor ihr. Ihr allererstes Online-Date und er, er suchte dringend einen Engel.

Fassungslos sahen sich beide an. „Wir verbringen so viele Stunden am Tag in einer Firma und wir waren bereits privat unterwegs. Warum habe ich nichts gefühlt und nichts gecheckt?“ Thomas sah die junge Frau vor sich verzweifelt an. Plötzlich lächelte Pauline, so wie eigentlich nur Engel lächeln können. „Es ist 18 Uhr. Wir beide haben jetzt ein Date und wir kennen uns überhaupt nicht. Vielleicht erwartet uns ja eine wundervolle Überraschung und ein lang ersehntes Weihnachtsgeschenk wartet unter dem Baum auf uns.“ Die Anspannung in Thomas verschwand von einer Sekunde auf die andere und insgeheim schickte er ein Stoßgebet in Richtung Himmel. Anscheinend haben die dort oben einen Internetzugang, gut zu wissen!

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